Politische Persönlichkeit des Jahres

Die Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft zeichnet jedes Jahr eine Persönlichkeit aus, die durch besondere Leistungen im Bereich der Politik hervorsticht: die “Politische Persönlichkeit des Jahres” (PPJ). Sie wird dann im Jahrbuch Politika vorgestellt und gewürdigt.

Christoph Franceschini

Christoph Franceschini – „Neugierde, Enthusiasmus und eine dicke Haut“

2022 hat Christoph Franceschini das Buch „Freunde im Edelweiss. Ein Sittenbild der Südtiroler Politik“ mit seinem Journalistenkollegen Artur Oberhofer veröffentlicht. Das Buch zeigt auf, welche Seilschaften hinter den Kulissen im Lande wirken, um ihre privaten Interessen durchzusetzen. Und welche politisch großkalibrigen Akteure dabei involviert sind. Dieses Buch und die damit einhergehende Berichterstattung mit den damit verbundenen politischen Konsequenzen waren der Auslöser, weshalb die Wahl als politische Persönlichkeit des Jahres 2022 auf Christoph Franceschini gefallen ist. Aber der Anlassfall hätte nicht genügt. Es ist die jahrelange, hartnäckige, nicht nachlassende journalistische, investigative Tätigkeit, die Christoph Franceschini über den Anlassfall hinaus kennzeichnen.
Christoph Franceschini ist seit Ende der 1980er-Jahre ein verlässlicher investigativer Journalist, dessen Scoops mitunter weit über die Grenzen Südtirols Resonanz finden. Er war und ist ein konstanter Faktor im Spiel von Checks and Balances in Südtirol und repräsentiert als Aufdeckungsjournalist wie kaum ein anderer seiner Zunft die Kontrollfunktion der Vierten Gewalt gegenüber den Machthabenden.
Meinungs- und Medienpluralismus sind Grundpfeiler der Demokratie. Das Wissen um Vorgänge und Hintergründe in Politik und Wirtschaft ist eine Voraussetzung für demokratische Teilhabe. Dieses stärkt Franceschini zusätzlich, indem er seine investigativ-journalistischen Einsichten in Büchern und Filmen aufbereitet, vertieft und/oder historisch einordnet. Die Auszeichnung Franceschinis als Politische Persönlichkeit des Jahres 2022 würdigt, dass die Arbeit unabhängiger Journalistinnen und Journalisten den Boden demokratischer Prozesse bereitet und die Pressefreiheit einen fundamentalen und somit unverzichtbaren Aspekt der Grundfreiheiten darstellt, die es in einer Demokratie zu verteidigen gilt.

Siehe Laudatio von Harald Knoflach.

Siehe Salto.bz, 08.04.2023 von Günther Pallaver.

4. April 2023
Altes Rathaus, Bozen

Fotos: Harald Knoflach/politika

Organisatorinnen des Frauenmarsches – Donne in Marcia

Politika, die Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft/Società di Scienza Politica dell’Alto Adige/Sozietà de Scienza Pulitica de Sudtirol vergibt jährlich einen Preis an eine Südtiroler Persönlichkeit, die sich auf dem Gebiet der Politik und der politischen Bildung ausgezeichnet hat.

Als politische Persönlichkeit des Jahres 2021 hat der Vorstand von Politika die Organisatorinnen des Frauenmarsches – Donne in Marcia in Bozen am 25.09.2021 ausgewählt. Der Vorstand vergibt den Preis somit nicht an eine bestimmte Person, sondern an ein Kollektiv, um zu unterstreichen, dass Fortschritt im Bereich Gleichstellung der Geschlechter nur durch einen gemeinsamen, inklusiven und intersektionalen Ansatz erreicht werden kann.

Die Organisatorinnen bringen zentrale Ziele der Frauenbewegung nach Südtirol, und zeigen, dass diese auch abseits der Metropolen und in traditionell eher konservativ geprägten Gebieten von großer Relevanz sind. „Südtirol wachrütteln“ ist das Motto des Marsches: Aufzeigen, dass es in Sachen Gleichstellung eben nicht reicht, sich auf dem schon Erreichten auszuruhen, sondern Probleme und Bedarfe identifizieren, und konkret an Lösungen arbeiten. Besonders hervorzuheben ist die intersektionale Herangehensweise der Organisatorinnen, die neben unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen Organisationen[1] auch Männer explizit mit ins Boot holt, die von patriarchalen Rollenzuschreibungen und antiquierten Geschlechterstereotypen ebenfalls eingeschränkt werden. Das „Wachrütteln“ gilt also allen Gesellschaftsschichten, Hintergründen und Geschlechtsidentitäten, und insbesondere auch den politischen Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern. Die Organisatorinnen sehen den Marsch als Initialzündung für eine Graswurzelbewegung, die überparteilich, laizistisch und inklusiv für eine gerechtere Gesellschaft für alle arbeitet.

Der Preis an die Organisatorinnen des Frauenmarschs ist eine Anerkennung all jener Personen, die zur Bewusstseinsbildung zu geschlechterpolitischen Themen beitragen, und verdeutlichen, warum Geschlechterstereotype, toxische Männlichkeitsvorstellungen und Gewalt, Diskriminierung, ungleiche Verteilung von Care-Arbeit und der Gender Pay Gap eben nicht nur „Frauenthemen“ sondern wichtige gesamtgesellschaftliche Aktionsfelder für die nächsten Jahre sind. Die rund 350 Teilnehmer/-innen am Marsch[2] trotz Pandemie zeigen, dass auch hierzulande Diskussions- und Aktionsbedarf besteht. Ein erstes „Wachrütteln“ ist den Organisatorinnen also gelungen, nun gilt es, darauf aufbauend weitere gesellschaftliche Veränderungsprozesse anzustoßen. Der Preis ist daher auch eine Aufforderung an die politischen Akteurinnen und Akteure, Gewalt und Diskriminierung gegen Frauen in all ihren Formen zu bekämpfen, und zivilgesellschaftliche Transformationsprozesse zu unterstützen.

[1] https://www.cgil-agb.it/de/cgil-agb-informiert/558-frauenmarsch-donne-in-marcia

[2] https://www.suedtirolnews.it/chronik/frauenmarsch-gegen-gewalt-in-bozen

Politische Persönlichkeit des Jahres – Organisatorinnen des Frauenmarsches in Bozen: Feministische Transformationsanstöße für Südtirol

Am 25.09.2021 fand in Bozen der Südtiroler Frauenmarsch – Donne in marcia statt. Die Organisatorinnen brachten zentrale Anliegen der internationalen „vierten Welle“ der Frauenbewegung, die auf einen inklusiven und gesellschaftlich-transformatorischen Ansatz setzt, in den Südtiroler Kontext.

Wie in vielen anderen Aspekten unseres Alltags hat die Pandemie auch im Bereich der Geschlechtergleichheit zu tiefgreifenden Veränderungen beigetragen. Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung[1] hat die Pandemie die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern verschärft und zu einer Re-Traditionalisierung der Rollenbilder beigetragen: Frauen trugen die Hauptlast der durch die Schließung von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen entstehenden zusätzlichen Care-Arbeit. Aufgrund ökonomischer Ungleichheiten (Gender Pay Gap) waren es meist Frauen, die in der Pandemie ihre Arbeitszeit reduzierten, um Betreuungstätigkeiten leisten zu können – dies hat unmittelbare Auswirkungen auf deren Karrierechancen sowie auf die Gefahr von Altersarmut.

Auch die Gewalt gegen Frauen hat in der Pandemie zugenommen: In Italien gingen während des ersten Lockdowns 2020 73 Prozent mehr Anrufe bei Hilfshotlines zu häuslicher Gewalt ein[2].  Laut nationalem Statistikinstitut ISTAT waren 31,5 Prozent der italienischen Frauen im Laufe ihres Lebens Opfer einer Form von physischer oder sexualisierter Gewalt. Im Zeitraum vom 01. Jänner bis 21. November 2021 wurden in Italien 109 Frauen ermordet, was einem Plus von acht Prozent gegenüber dem Vorjahr entspricht; die Zahl der Frauen, die im familiären Umfeld bzw. von ihrem Partner ermordet wurden, nahm im Vergleich zu 2020 ebenfalls um sieben Prozent zu[3].

Die Organisatorinnen des Frauenmarschs reagieren auf diese Entwicklungen, und erinnern zu Beginn ihres Manifests bewusst an die Frauen, die in Südtirol in den letzten Jahren einem Femizid zum Opfer gefallen sind. Femizide sind für die Organisatorinnen die Spitze eines Eisbergs der „ganz unten am kaum sichtbaren Sockel beim Abwerten von Mädchen und Frauen beginnt, sich dann auftürmt und nährt von zahlreichen Ungerechtigkeiten: schlechter Absicherung, Armutsfalle, Doppelbelastung, weniger Sichtbarkeit, weniger Einfluss, Sexismus und vielen Formen von Gewalt, u.a. wirtschaftlicher und damit auch psychischer Abhängigkeit“[4]. Als Organisationsform wird der Marsch gewählt, als öffentliche Demonstration von Präsenz und Widerstand auch in Anlehnung an den internationalen Women’s March. Der Frauenmarsch bietet somit einen Ausgangspunkt für eine lokale Verankerung internationaler feministischer Anliegen auch in Südtirol; die Organisatorinnen zeigen durch weitere Initiativen (z.B. zum Internationalen Tag gegen Gewalt gegen Frauen am 25.11., oder im Rahmen von bewusstseinsbildenden Kunstinstallationen) dass ihre kollektive Arbeit für Geschlechtergerechtigkeit mit Sicherheit nach der „Initialzündung“ des Marsches weitergehen wird.

[1] https://www.boeckler.de/de/boeckler-impuls-ruckschritt-durch-corona-23586.htm

[2] https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-11/oxfam-studie-gewalt-gegen-frauen-corona

[3]https://www.salute.gov.it/portale/donna/dettaglioContenutiDonna.jsp?id=4498&area=Salute%20donna&menu=societa

[4] https://www.cgil-agb.it/images/news/pdf/Manifest_MarschA2021DT_final.pdf

12. April 2022
Frauenmuseum Meran

Fotos: Matteo Groppo / Dolomiten

Die Figur der/s Freiwilligen

Politika, die Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft/ Società di Scienza Politica dell’Alto Adige/ Sozietà de Scienza Pulitica de Sudtirol, vergibt jährlich einen Preis an eine Südtiroler Persönlichkeit, die sich auf dem Gebiet der Politik und der politischen Bildung ausgezeichnet hat.
Als politische Persönlichkeit des Jahres 2020 hat der Vorstand von Politika die Figur des/der Freiwilligen gewählt. Ausnahmsweise hat der Vorstand in einem Jahr, das von der Covid-19-Pandemie heimgesucht wurde und dabei viele Schwachstellen auch in der Südtiroler Gesellschaft aufgedeckt hat, beschlossen, den Preis nicht an eine bestimmte Person, sondern an diese allgemeine Figur zu vergeben.
Auch wenn die Pandemie und die Maßnahmen zur sozialen Distanzierung, die zur Begrenzung ihrer Ausbreitung ergriffen wurden, viele üblichen Freiwilligentätigkeiten behindert haben, so hat sich doch mit der wachsenden Krise deutlich gezeigt, welchen Beitrag die Freiwilligen zur Unterstützung der Gemeinschaft und des sozialen Zusammenhalts leisten, von der Lösung kleiner Alltagsprobleme im Zusammenhang mit Einkäufen und dem Kauf von Medikamenten für die vielen älteren Menschen, die zu Hause festsitzen, bis hin zur Unterstützung durch die Freiwilligen beim Massentest der Bevölkerung Südtirols bei der Covid-19-Erhebung.
Die Arbeit der Freiwilligen in ihren verschiedenen Ausprägungen, von organisierten und gut strukturierten Aktivitäten in mehr oder weniger großen Verbänden bis hin zu individuellen und spontanen Initiativen, war und ist eine entscheidende Hilfe, um sich in den schwierigen Monaten der Pandemie zurechtzufinden und die Solidarität und die Bindungen in der Gemeinschaft wieder zu stärken.
In einer Zeit der großen Krise, gekennzeichnet durch Einschränkungen der persönlichen Freiheit, haben sich die Freiwilligen hervorgetan und dem Konzept der partizipativen Demokratie sowie dem Prinzip der Subsidiarität Ausdruck verliehen, wie dies in Artikel 118 der italienischen Verfassung festgelegt ist, der besagt: „Staat, Regionen, Großstädte mit besonderem Status, Provinzen und Gemeinden fördern aufgrund des Subsidiaritätsprinzips die autonome Initiative sowohl einzelner Bürger als auch von Vereinigungen bei der Wahrnehmung von Tätigkeiten im allgemeinen Interesse.“ Die vielen freiwilligen Initiativen, die auf verschiedenen Ebenen durchgeführt werden, haben den Wunsch unterstrichen, sich um das Gemeinwohl und die Schwächsten zu kümmern, im Interesse der Allgemeinheit.
Schon lange vor der Pandemie und darüber hinaus sind die Zehntausenden von Menschen aller Altersgruppen und sozialer Schichten in Südtirol, die sich spontan und unbezahlt zum Wohle der Gemeinschaft engagieren, sei es informell oder in Freiwilligenorganisationen, eine tragende Säule für die Gesundheit und das gute Funktionieren der Südtiroler Gesellschaft. Ihr Engagement in den verschiedensten Bereichen, von der Sozial- und Gesundheitsfürsorge bis hin zu Kultur und Bildung, von Sport und Freizeitaktivitäten bis hin zum Zivil- und Umweltschutz, leistet einen grundlegenden Beitrag zum zivilen Zusammenleben und stellt eine wichtige Ressource dar, um Vertrauen, Partizipation und Entwicklung in Südtirol zu unterstützen und das soziale, menschliche und kulturelle Kapital zu vergrößern.
Der Preis an die Figur des/der Freiwilligen ist eine Anerkennung all jener Menschen, die mit ihren unentgeltlichen Gesten, wie groß oder klein auch immer diese sind, zum Wohlergehen und zur Förderung der Zivilgesellschaft beigetragen haben, nicht nur in diesem schwierigen Jahr 2020. Der Preis ist auch eine Aufforderung, das Ehrenamt in all seinen Formen sowie all jene Organisationen und Vereine, große genauso wie kleine, auch weiterhin zu unterstützen, die auf der Tätigkeit des Ehrenamtes beruhen und das Ehrenamt fördern und unterstützen.

19. März 2021
Verleihungszeremonie online

Fridays For Future South Tyrol

Klicke hier für das Video.

Die Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft / Società di Scienza Politica dell’Alto Adige / Sozietà de Scienza Pulitica de Sudtirol hat beschlossen, die Bewegung „Fridays for Future“ als politische Persönlichkeit des Jahres 2019 zu ehren.
Ab Sommer 2018 hat sich Greta Thunberg, eine damals 15-jährige Schülerin aus Schweden, jeden Freitag vor das Parlament in Stockholm gesetzt, um für die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens zu demonstrieren. Dank der internationalen Aufmerksamkeit, die ihre Initiative gewonnen hat, ihren Auftritten bei der UN-Klimakonferenz in Katowice 2018 (COP24) und bei Weltwirtschaftsgipfeln und anderen internationalen politischen und ökonomischen Zusammenkünften hat sie die politischen Eliten unmissverständlich zum Handeln aufgefordert, denn „our house is on fire!“
Dem Beispiel von Greta Thunberg folgend, fanden globale Fridays-for-Future-Kundgebungen statt, die zunächst vor allem die Jugend auf der ganzen Welt bewegten, für einen möglichst umfassenden, schnellen und effizienten Klimaschutz zu demonstrieren.
Auch in Südtirol sind die Schülerinnen und Schüler diesem Beispiel gefolgt und demonstrieren seit Februar 2019 für eine radikale Konversion der Klimapolitik, die ihre Zukunft sichern soll. Damit war die FfF-Bewegung in Südtirol Vorreiterin für die Protestbewegung in Italien.
Die Gründe für ihre Ehrung sind:

  • Die FfF-Bewegung zeugt von einer äußerst hohen zivilgesellschaftlichen Verantwortung, die lokal agiert und global wirkt.
  • Die Bewegung ist authentisch und Ausdruck der Gleichheit aller Menschen, da alle von demselben Schicksal des Klimawandels betroffen sind. Es ist für die Südtiroler Bewegung selbstverständlich, sprachübergreifend zu wirken.
  • Die Bewegung schließt alle Menschen mit ein und schließt im Einsatz um die Rettung der gemeinsamen Welt niemanden aus. Sie ist deshalb Ausdruck der enschenwürde.
  • Die Bewegung ist pazifistisch und lehnt jede Art von Gewalt ab. Ihre Kraft ist der Massenprotest und das Wort sowie die „Unschuld der Jugend.“
  • Die Bewegung zieht alle anderen Generationen, vor allem die ältere, zur politischen Verantwortung.
  • Die Bewegung hat der jungen genauso wie der älteren Generation wieder Vertrauen in ihrem Einsatz um eine klimaverträgliche Welt gegeben, die Heimat für alle Menschen ist. Damit setzt sich die Bewegung auch für die Demokratie ein, da Vertrauen eine Grundkategorie der Demokratie ist.
  • Die Bewegung steht für eine Kehrtwende im Umgang mit der Umwelt und den gegebenen Resourcen. Sie tritt ein gegen die Ausbeutung der Welt. Denn Ausbeutung bedeutet die Negation des Lebens, letztlich der gesamten Welt.
  • Die Bewegung hat die Angst um die Zukunft in zukunftsorientiertes Handeln verwandelt. Sie ist vom „Prinzip Hoffnung“ getragen.
  • Die Bewegung kommt von unten und hat sich nicht von Parteien, anderen Organisationen oder Interessensvertretungen vereinnahmen lassen.
  • Die Bewegung ist von der Zivilcourage getragen, die sich selbst ermächtigt hat, für radikale Maßnahmen zugunsten des Klimawandels einzutreten.
  • Die Bewegung wirkt über Generationen und Kontinente hinweg. Sie hat in der Zwischenzeit neben den Jugendlichen zahlreiche Bündnispartner/-innen im weltweiten Einsatz für den Klimaschutz gewonnen.

Dies sind die wesentlichen Gründe, weshalb die Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft / Società di Scienza Politica dell’Alto Adige / Sozietà de Scienza Pulitica de Sudtirol „Fridays for Future“ als „Politische Persönlichkeit des Jahres 2019“ würdigt und auszeichnet.

8. Mai 2020
virtuell

Lidia Menapace

Die Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft/Società di Scienza Politica dell’Alto Adige/Sozietà de Scienza Pulitica de Sudtirol hat beschlossen, Lidia Menapace als politische Persönlichkeit des Jahres 2018 zu ehren. Frau Menapace wird für ihr Lebenswerk geehrt, das sich ausdrückt in ihrem Einsatz für die Grund- und Menschenrechte, für die Demokratie, für soziale Randgruppen und Minderheiten, für die Benachteiligten, die auf der Schattenseite des Lebens stehen, für die Rechte der Frauen, für die Gewaltlosigkeit und gegen den Krieg. Lidia Menapace hat sich bereits während des Zweiten Weltkriegs als Partisanin gegen den Faschismus und Nationalsozialismus eingesetzt und damit für die Menschenwürde und die Demokratie, für Gewaltlosigkeit und den Frieden in der Welt. Sie hat als junge Frau als Partisanin begonnen, sie hat diese Haltung und diesen Einsatz gegen Autoritarismus und Totalitarismus, gegen Militarismus und Krieg seit damals nie mehr aufgegeben. Sie hat sich stets für Minderheiten eingesetzt, für soziale Randgruppen, für die gesellschaftlich und ökonomisch Diskriminierten, denen die Menschenwürde vorenthalten wurde und nach wie vor vorenthalten wird. Lidia Menapace hat Zeit ihres Lebens für die Würde und die Rechte der Frauen gekämpft. Sie war für diese Würde und diese Rechte in zahlreichen Institutionen (Landtag, Regionalrat, Parlament), Vereinigungen und Bewegungen engagiert, mit ihren Schriften und mit ihrem Wort. Sie war mit Waltraud Gebert-Deeg die erste Frau, die 1964 in den Südtiroler Landtag gewählt wurde und, immer mit ihrer Kollegin, die erste Frau in der Südtiroler Landesregierung, wo sie die Bereiche soziale Fürsorge und Gesundheit übernahm. Damals betrug der Frauenanteil im Landtag 8 Prozent, heute beträgt er 25,7 Prozent. Der Anteil der Frauen ist im Vergleich zu den Landtagswahlen 2013 wieder zurückgegangen, der Anteil der Frauen in der Landesregierung im Vergleich zu 1964 gleich geblieben. Seit der dritten Welle der weltweiten Demokratisierung ist der Anteil der Frauen in den Parlamenten und Regierungen nicht sonderlich angestiegen: der Anteil der Frauen in den Parlamenten weltweit liegt bei 20 Prozent, in den Regierungen bei 10 Prozent. Lidia Menapace ist Symbol und Vorbild für ein lebenslanges politisches Engagement, für politische Partizipation, für politische Einmischung, für politische Bildung, letztlich für die Demokratie, die auf den Grundprinzipien der Gleichheit, Freiheit, Solidarität und Menschenwürde aufbaut. All dies sind wesentliche Gründe, weshalb die Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft/Società di Scienza Politica dell’Alto Adige/Sozietà de Scienza Pulitica de Sudtirol Lidia Menapace als „Politische Persönlichkeit des Jahres 2018“ würdigt und auszeichnet.

5. April 2019
Alter Ratssaal, Bozen

Hannes Obermair

Politika, la Società di Scienza Politica dell’Alto Adige/Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft/Sozietà de Scienza Pulitica de Sudtirol zeichnet jährlich eine Persönlichkeit aus, die in einem gewissen Zusammenhang mit Südtirol steht und die sich durch besondere Leistungen im Bereich der Politik und des bildungspolitischem Engagements hervorgetan hat.
Hannes Obermair wurde vom Vorstand der Politika als politische Persönlichkeit des Jahres 2017 ausgezeichnet. Hannes Obermair, Historiker, Archivar und Kurator verschiedener Ausstellungen, ist federführend im Bereich der Aufarbeitung, Kontextualisierung und Wahrnehmung faschistischer Denkmäler in Südtirol, insbesondere in Bozen. Als damaliger Direktor des Stadtarchivs von Bozen wurde er Mitglied der Historikerkommission, die 2011 mit der Gestaltung eines musealen Parcours im Siegesdenkmal beauftragt wurde. Außerdem war die Kommission verantwortlich für die historische Einordnung des Flachreliefs von Hans Piffrader, welches Mussolini hoch zu Ross zeigt und die Verherrlichung des Faschismus darstellt.
Seiner und der Arbeit anderer, die im Bereich der historischen Einordnung faschistischer Denkmäler mitgewirkt haben, ist es zu verdanken, dass die Denkmäler – oftmals Stein des Anstoßes zwischengesellschaftlicher Beziehungen – nun Mahnmäler und Orte der Begegnung sind bzw. als solche wahrgenommen werden können für die Aufarbeitung der Vergangenheit und die Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft. Die Kontextualisierung historischer Denkmäler, welche Ursache und Gegenstand von Streitigkeiten darstellten, ist ein wesentlicher und innovativer Beitrag für ein friedliches Zusammenleben und die Überwindung von Spannungen zwischen Südtirols Sprachgruppen. Südtirol zeigt damit beispielhaft auf, wie ethnische Spannungen überwunden und Minderheiten geschützt werden können. 
Als Teil einer überparteiischen Arbeitsgruppe für die Kontextualisierung historischer Denkmäler war Obermair in der Lage, die verschiedenen Erinnerungskulturen, die an den Denkmälern haften, einander gegenüberzustellen. Dadurch dass das Siegesdenkmal und das Piffrader-Relief in einen historischen Zusammenhang gestellt worden sind, wurden sie zu einem Grundstein für die Aussöhnung der Südtiroler mit ihrer Vergangenheit und sind zudem ein wichtiger Schritt nach vorne zur Unterstützung eines friedvollen Zusammenlebens der vielseitigen Gesellschaft Südtirols. Die Politika-Auszeichnung „Politische Persönlichkeit des Jahres 2017“ würdigt Obermairs Arbeit und ist gleichzeitig auch Ansporn dafür, weitere faschistische sowie anderweitige umstrittene Denkmäler in Mahnmäler aufzuarbeiten und historisch einzuordnen.

3. Mai 2018
Alter Ratssaal, Bozen

Fotos: Harald Knoflach

Nicht vergeben

Nicht vergeben

Nicht vergeben

Nicht vergeben

Franz Thaler

von Günther Pallaver

Lieber Franz Thaler, meine sehr geehrten Damen und Herren,

die Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft/la Società di Scienza Politica dell’Alto Adige/Sozietà de scienza pulitica de Sudtirol hat Herrn Franz Thaler zur Persönlichkeit des Jahres 2012 gewählt. Es gibt eine Reihe von Gründen für diese unsere Entscheidung, aber alle diese Gründe fließen zusammen in einer gesellschaftlichen Tugend, die Franz Thaler zeit seines Lebens vorgelebt hat und die im weitesten Sinne des Wortes zutiefst politisch ist, nämlich die Tugend der Zivilcourage.
Allgemein kommt Zivilcourage in bestimmten Situationen vor, wenn der subjektive Wert- oder Gerechtigkeitssinn einer Person verletzt wird. Das Empfinden einer Verletzung von Gerechtigkeit ruft einen Dissens mit jenen hervor, die einen solchen Gerechtigkeitssinn nicht haben, diesen bewusst leugnen oder denen der Mut fehlt, gegen die empfundene Ungerechtigkeit aufzutreten. Ein durch den Gerechtigkeitssinn hervorgerufener Dissens verursacht einen starken Handlungsdruck, der im öffentlichen Diskurs wie ein Mühlstein das Private belastet.
Mit dem Sinn für Gerechtigkeit ist Franz Thaler schon sehr früh konfrontiert worden, als seine Familie 1939 zwischen „gehen“ oder „bleiben“ entscheiden musste und sich gegen den massiven Handlungsdruck gegen den Auszug aus der Heimat aussprach. Die Diskriminierung durch die eigenen Mitbürger, die anders entschieden hatten, wog schwer. Aber noch weit schwerer wog die Diskriminierung durch die reichsdeutschen Nationalsozialisten ab 1943, kräftig unterstützt durch die Nationalsozialisten vor Ort, als Franz Thaler gezwungen werden sollte, in die Deutsche Wehrmacht einzutreten. Franz Thaler sagte Nein zur Wehrmacht und dadurch Nein zum Hakenkreuz.
Zivilcourage hat immer mit einem Machtungleichgewicht zu tun. Im Nachteil des Machtungleichgewichts befindet sich jene Person, die den Mut zum Handeln gegen das Unrecht aufbringt und sich trotz eines Anpassungsdrucks nicht unterordnet, mit allen Konsequenzen, die damit verbunden sind. Auch weil zivilcouragiertes Handeln mit Risiken verbunden ist, mit unsicherem, oft sogar mit sehr unsicherem Ausgang. Franz Thaler war diesem Machtungleichgewicht machtlos ausgesetzt. Die perfid eingesetzte Sippenhaftung hat ihn in die Hölle des Konzentrationslagers Dachau geführt.
Zivilcourage speist sich in erster Linie durch ideelle Werte, durch nicht-materielle Handlungsgründe. Und weil Zivilcourage auf nicht-materiellen Motiven beruht, beruht solches aktives und sichtbares Handeln auf Freiwilligkeit und orientiert sich an humanen Prinzipien. Der Einsatz gegen Unrecht bedeutet, für die legitimen Grundrechte anderer Menschen einzutreten genauso wie für die eigenen Grundrechte, deren Grundlage vor allem Humanität und Toleranz sind. Es geht im engsten Sinne des Wortes immer um die Würde des Menschen, um die Gleichheit und Freiheit der einzelnen Person wie der Gesellschaft.
Die ideellen Werte, von denen Franz Thaler damals geleitet wurde, die Auflehnung gegen das Unrecht und gegen die Unmenschlichkeit, ist wohl nur vor dem Hintergrund eines Lernprozesses, eines Sozialisationsprozesses zu verstehen, der das Auge geschult, das Herz hat empfänglich werden lassen für Gerechtigkeit und Wahrheit. Franz Thaler muss in seiner Familie und in seinem familiären Umkreis einen genuin nachvollziehbaren Wertekanon der Humanität vermittelt bekommen haben, der ihm ein solides Fundament im zwischenmenschlichen Umgang vermittelt hat, andernfalls lässt sich sein Verhalten in einer solch extremen Situation nur schwer nachvollziehen. Und wenn der deutsche Bundespräsident Roman Herzog 1997 gemeint hat, „Das meiste Unrecht beginnt im Kleinen – und da lässt es sich mit Mut und Zivilcourage noch bekämpfen”, so hat es Franz Thaler nicht beim „Kleinen“ belassen, das man „gerade noch“ bekämpfen kann, sondern hat sich dem „Großen“ widersetzt.
Wer Zivilcourage an den Tag legt, wer gegen die Verletzung der Menschenwürde aufsteht, übernimmt Verantwortung für sich und für andere, ohne auf potentielle Erfolgsabsichten zu schauen. Wer sozialen Mut aufbringt, bringt diesen unabhängig von den Folgen auf.
Zivilcourage, das ist der Mut des Einzelnen zu einem eigenen Urteil (Le Gall 1898). In dem Moment, wo der Einzelne diesen Mut aufbringt, macht er den Schritt vom Untertan zum selbstbestimmten Menschen.
Franz Thaler hat sich nach den Qualen des Konzentrationslagers nicht entmutigt, sondern diesen  Mut auch nach 1945 aufgebracht, als der Alltag die Vergangenheit zu verschleiern drohte, Schritt für Schritt, Jahr um Jahr. Während gleich nach Kriegsende die vielen dunklen Flecken der Südtiroler Vergangenheit der Logik der Einheit geopfert und die Rollen zwischen Tätern und Opfern schon bald wieder getauscht wurden, hat Franz Thaler Zeugnis abgelegt über das Unrecht, sind er und einige wenige andere gegen den Strom der Zeit geschwommen. Der gesellschaftliche Druck nahm schon bald wieder zu, damit das Sprechen mit dem Schweigen ausgetauscht würde.
Zivilcourage bedeutet aber nicht nur, sich allein mit dem Wort gegen Ungerechtigkeiten zur Wehr zu setzen. Franz Thaler hat gesprochen, leise, aber dermaßen eindringlich, dass er die Mauer des Schweigens zum Einsturz gebracht hat. Mit seinem Buch: Unvergessen. Option, KZ-Dachau, Kriegsgefangenschaft, Heimkehr. Ein Sarner erzählt“, hat er die Kultur der Erinnerung nachhaltig beeinflusst. Zugleich hat er die Erinnerungskultur in Südtirol wie kein anderer gelebt. Wer Ziele aufzeigt, tritt aus der Anonymität der Gesellschaft heraus. Dadurch hat Franz Thaler all jenen eine Stimme gegeben, denen über Jahrzehnte nicht nur die Stimme, sondern oft auch das Gesicht, die Identität der Geknechteten genommen worden war.
Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Toleranz, soziale Verantwortung, Frieden- und Völkerverständigung, Franz Thaler hat für die demokratische Kultur dieses Landes einen Beitrag geleistet, den wir heute noch gar nicht abschätzen können.
Franz Thaler behauptet von sich:“Ich bin nur ein kleiner Mensch”. Wenn alle „kleinen“ Menschen die Größe eines Franz Thaler hätten, wäre unsere Gesellschaft ein bisschen gerechter und menschenwürdiger.
Franz Thaler steht stellvertretend für all jene, die wie er Zivilcourage gelebt haben, wie die hier anwesenden Erich Pichler und Franz Breitenberger.
Die Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft/Società di Scienza Politica dell’Alto Adige/Sozietà de scienza pulitica de Sudtirol ehrt heute Franz Thaler, weil er wie kaum ein anderer die Geschichte des aufrechten Ganges einer Minderheit in der Minderheit in diesem Lande symbolisiert.
Symbol der Dableiber: Franz Thalers aufrechter Gang begann 1939, als sich seine Familie gegen die Option ins Deutsche Reich und fürs Dableiben entschied. Es war eine von religiösen Gründen getragene Entscheidung gegen den Nationalsozialismus. Franz Thaler steht für jene kleine Minderheit der Südtiroler, die eine dreifache Diskriminierung erfuhren: Durch die faschistische Unterdrückungspolitik, durch die reichsdeutsche NS-Verfolgung sowie durch die Diskriminierung und Verfolgung einheimischer Nationalsozialisten.
Symbol der Deserteure: 1944 weigerte sich Franz Thaler, als Dableiber dem Einberufungsbefehl zur Deutschen Wehrmacht Folge zu leisten. Die Folge war seine Verhaftung, die Einlieferung ins Konzentrationslager Dachau, Mühsal, Elend, Schrecken und Todesgefahr. Auch wenn es keine Desertion war, weil man nicht von einem Heer desertieren kann, dem man staatsrechtlich nicht angehört, kann Franz Thaler als Symbol für alle Deserteure angesehen werden, die sich einem Unrechtsstaat widersetzen. Pflichterfüllung einem verbrecherischen Regime gegenüber gibt es nicht. Ihre ethische Pflicht haben jene erfüllt, die sich dem Regime verweigert haben, wie Franz Thaler.
Symbol des Widerstandes: Franz Thalers Nein zum Hakenkreuz bei der Option und seine Weigerung, in den militärischen Dienst eines Unrechtsstaat zu treten, machen ihn zum Symbol des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Die Zahl jener, die in Südtirol diesen Mut aufgebracht haben, war gering. Thaler besaß die menschliche Fähigkeit, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden und zu sehen, wo elementarste Menschenrechte verletzt wurden. Widerstand bedeutete für ihn, einen gegen den Nationalsozialismus bewussten Akt der Verweigerung zu setzen, unabhängig von der Gefahr für das eigene Leben.
Symbol wider das Vergessen: Franz Thaler hat aus einer zivilgesellschaftlichen Verpflichtung heraus zeit seines Lebens öffentlich Zeugnis abgelegt über seine Ablehnung des Nationalsozialismus. Mit der Veröffentlichung seiner Erinnerungen 1988 hat er entscheidend dazu beigetragen, ein lang andauerndes Schweigen über den Nationalsozialismus in Südtirol zu brechen und Südtirols Vergangenheit aufzuarbeiten, insbesondere weil er dem ethnisch verengten Blick auf die Südtiroler Geschichte eine menschliche Alternative entgegenstellte. Franz Thaler hat dadurch im weitesten Sinne des Wortes politische Bildung betrieben.
Symbol der Verzeihung: Franz Thalers menschliche Größe zeigte sich nach seiner Rückkehr aus dem Konzentrationslager. Er hat seine mit dem Tod in Verbindung gebrachten Lebensabschnitte nie vergessen, auch nicht jene, die ihn nach Dachau gebracht haben. Trotz des erlittenen Unrechts hat Franz Thaler allen die Hand zur Versöhnung gereicht. Er hat verziehen, aber er hat nicht vergessen.
Symbol der Völkerverständigung: Franz Thaler hat einen wertvollen Beitrag zur Verständigung unter den Sprachgruppen in Südtirol geleistet, einen Beitrag zum Abbau von gegenseitigen Vorurteilen und dadurch zur Befriedung von ethnischen Auseinandersetzungen. Seine Botschaft der Verständigung genießt kraft seiner Authentizität, Offenheit und Integrität vor allem unter Jugendlichen aller Sprachgruppen eine hohe Glaubwürdigkeit.


Aus all diesen Gründen und insgesamt wegen seiner lebenslangen, öffentlich bezeugten Zivilcourage ist Franz Thaler zur Persönlichkeit des Jahres 2012 gewählt worden.

Klicke hier für die Würdigung (Text von Francesco Comina).

3. Mai 2013
Alter Ratssaal, Bozen

Fotos: Leo Angerer

Nicht vergeben

Guido Bocher

von Günther Pallaver

Sehr geehrter Herr Bürgermeister Gudio Bocher,
meine sehr geehrten Damen und Herren!

Die Generalversammlung der Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft/Società di Scienza politica dell’Alto Adige/Sozietà de scienza pulitica de Sudtirol hat Herrn Dr. Guido Bocher, Bürgermeister von Toblach, zur Persönlichkeit des Jahres 2010 gewählt.

Wenn jemand geehrt wird, dann denken wir im allgemeinen an eine hervorragende Leistung des Geehrten. Aber in der Politik gibt es nicht nur die unterschiedlichsten Politikfelder, über die vielleicht kontrovers diskutiert und entscheiden wird, sondern es gibt auch politische Institutionen und politische Prozesse, die hier hereinspielen können. Unsere Gesellschaft hat in diesem Falle stärker auf politische Prozesse geblickt, auch wenn die Inhalte davon nie ganz abstrahiert werden können. 

Die Wahl Guido Bochers zum Bürgermeister von Toblach wurde von vielen als Zufall erklärt, als Ergebnis mangelnder politischer Einschätzung, weil Wahlsysteme nicht nur ihre eigene Logik haben, sondern auch handfeste Auswirkungen hervorbringen. Wenn auf der Grundlage eines relativen Mehrheitswahlsystems zwei Kandidaten der Mehrheitspartei ins Rennen gehen, darf sich nach der Wahl niemand wundern, dass auch ein dritter Kandidat Chancen hatte.

Das alles wäre noch nicht ausreichend gewesen, um Herrn Bocher zur politischen Persönlichkeit des Jahres zu wählen. Ein erstes Motiv für die Wahl lag sicherlich in der Evidenz, dass den sich zur italienischen Sprachgruppe zugehörig erklärenden Guido Bocher nicht nur italienischsprachige Bürger und Bürgerinnen von Toblach gewählt haben, sondern auch deutschsprachige Toblacher und Toblacherinnen. Das klingt vorerst einmal banal. Aber angesichts der Tatsache, dass Südtirols Wahlarena auf Landesebene, aber auch auf kommunaler Ebene, in zwei, bzw. drei ethnische Subarenen zerfällt und die elektorale Durchlässigkeit sehr beschränkt ist – bei den Landtagswahlen 2008 wählten rund 10 Prozent der italienischsprachigen SüdtirolerInnen eine deutschsprachige Partei, ca zwei Prozent der deutschsprachigen SüdtirolerInnen eine italienische – ist dies bereits eine erste Bemerkenswertigkeit.
In Toblach haben jedenfalls bedeutend mehr als zwei Prozent der deutschsprachigen BürgerInnen einem italiensichssprachigen Kandidaten ihre Stimme gegeben und somit die ethnische Logik, die wir auf allen elektoralen Ebenen finden, durchbrochen. Zur Absicherung der Argumente sei noch hinzugefügt, dass in diese Logik nicht jene Gemeinden fallen, in denen nicht nach dem relativen, sondern nach dem absoluten Wahlsystem mit potentieller Stichwahl gewählt wird, wobei hier in erster Linie Bozen und Leifers zu zitieren sind.

Nun, die über dem Landesdurchschnitt liegende Zustimmung deutschsprachiger BürgerInnen für einen italienischsprachigen Kandidaten ist zwar bemerkenswert, aber kein absoluter Sonderfall. Vor allem in den zweisprachigen Gemeinden des Unterlandes kommt es immer wieder zu solch ethnischen Übergängen, weil auf lokaler Ebene die Persönlichkeit eine wichtige Rolle spielt. Aber von der sozusagen „ethnischen Sozialstruktur“ her betrachtet sind diese Gemeinden mit Toblach nicht zu vergleichen.
Die Besonderheit der Wahl Bochers und somit auch der neben den bereits zitierten entscheidende Grund, weshalb wir ihn zur politischen Persönlichkeit des Jahres gewählt haben, ergab sich zeitverschoben, nämlich erst nach der Wahl.
Einmal gewählt, gab es politisch gewichtige Stimmen, die von einer ethnischen Inkompatibilität  sprachen, wonach in einer fast rein deutschsprachigen Gemeinde ein Italiener die Funktion des Bürgermeisters nicht ausüben könne.  Es gab keinen einzigen anderen Grund, der gegen Bocher vorgebracht wurde, weder, dass er unfähig sei, noch dass er der Sprache der Mehrheit nicht mächtig sei, noch dass er im Sinne von Aristoteles mit keinen Tugenden ausgestattete Person sei. Der einzige Grund, der vorgebracht wurde, lag nicht in seiner Person, sondern in seiner Sprachgruppe. Es war ein Grund der Ablehnung, der in keinem Gesetz vorgesehen ist, der nicht gewohnheitsrechtlich begründet ist, der in der politischen Praxis nicht vorkommt. Der Ablehnungsgrund wurde ausschliesslich ethnisch begründet.
Genau an diesem Punkt beginnt die Besonderheit der Wahl Bochers. Denn es waren die Bürger und Bürgerinnen Toblachs, die jetzt, unabhängig davon, ob sie Bocher gewählt hatten oder nicht, an der Wahl „ihres“ Italieners und „ihres“ Bürgermeisters festhielten. Für die ToblacherInnen galt das noch vor der Schriftlichkeit sanktionierte Prinzip des Handschlags, wonach Regeln nicht nur formal, sondern auch materiell eingehalten werden müssen. Es war die hohe Demonstration einer politischen Ethik, aber auch des common sense, der die BürgerInnen Toblachs geleitet hat, und die dem Prinzip der Ethnizität das Prinzip der Demokratie gegenüber gestellt haben. Bocher wurde von einer Mehrheit deutschsprachiger BürgerInnen Toblachs gewählt, die sich an der Persönlichkeit Bochers, an seinen „Tugenden“ orientiert haben, nicht an seiner ethnischen Zugehörigkeit, und es waren die BürgerInnen, die darauf gepocht haben, dass Demokratie unteilbar ist.

An dieser Stelle angelangt führt uns das Beispiel Toblach zu einem Spannungsverhältnis, das dieses Land  nach wie vor prägt, das Spannungsverhältnis zwischen ethnos und demos. Und dieses Spannungsverhältnis beginnt mit dem Versuch, Identität, insbesonders kollektive Identität zu definieren.
Allgemein wird darunter die Gesamtheit der Gemeinsamkeiten einer Gruppe verstanden, mit denen sich die Mitglieder dieser Gruppe identifizieren und sich, kraft dieser Gemeinsamkeiten, als Gruppe wahrnehmen. Die Eigenschaften, die solche kollektive Identitäten ausformen, können nicht a priori zugeschrieben werden, sondern sind nur empirisch erschließbar.  Um Max Weber zu zitieren, kollektive Identitäten beruhen auf einem „Stammesverwandtschaftsglauben,“ der, subjektiv begründet, kollektive Selbstbilder der IdentitätsträgerInnen bildet und Ausgangspunkt für deren „Wir-Gefühl“ ist.

Kollektive Identitäten sind, wie Aleida Assmann analysiert, Metaphern, imaginäre Größen, oder in der bekannten Diktion von Benedict Anderson, „imaginierte Gemeinschaften“, weil in nicht mehr überschaubaren Gemeinschaften die Fähigkeit zur Abstraktion und Imagination notwendig ist, um Kollektivität im übertragenen Sinne greifbar zu machen. Kollektive Identitäten bleiben Konstrukte, die in der Realität verschwommen sind, sich nicht einfangen, festhalten lassen. Mangels eines klaren Messinstruments, was denn eine kollektive Identität sei, bedienen wir uns verschiedener Indikatoren, wie beispielsweise die Geschichte, das Territorium, die Sprache, die Öffentlichkeit, Symbole und Werte, die wiederum abgrenzbar, erfahrbar und nachvollziehbar, plausibel sein müssen.
Selbstdefinition und Abgrenzung einer kollektiven Identität beziehen sich auf Gemeinsamkeiten der eigenen Gruppe, oder/aber auch auf Gemeinsamkeiten anderer Gruppen. Der Festigung der Gruppe nach innen entspricht auch die Abgrenzung nach außen. Einmal definiert, wer immer diese Definitionsmacht auch besitzt, welche Merkmale eine solche kollektive Identität bilden, erscheinen die Ungleichheiten zwischen den Mitgliedern einer Gruppe nebensächlich zu werden.
Wenn wir wieder zu den Merkmalen kollektiver Identitäten zurückkehren, so können wir zwischen vorpolitischen und politischen Bezugspunkten unterscheiden, die uns allmählich zur Unterscheidung zwischen ethnos und demos führen.

Vielfach wird von angeblich „naturgegebenen“ Gemeinsamkeiten einer Gruppe ausgegangen, wie von einer gemeinsamen Geschichte, Sprache oder von einem gemeinsamen Territorium, man spricht von gemeinsamer Kultur, Abstammung, Konfession oder gar Rasse. Personen einer Gruppe, die sich auf solche vorpolitische Merkmale beziehen, auf eines dieser Merkmale oder auf mehrere zugleich, nehmen sich als ethnische Identität wahr. Je nach Gewichtung eines dieser Merkmale sprechen wir dann von kultureller, historischer, territorialer, rassischer usw Identität.
Eine politische Identität geht hingegen von anderen Parametern aus, wie beispielsweise von demokratischen Prozessen oder von einem demokratischen Werteverständnis, darunter fallen solche Werte wie Freiheit, Gleichheit oder Solidarität, die normativ betrachtet als universalistisch gelten. Tiroler oder Südtiroler Werte würden diesem Anspruch beispielsweise nicht genügen. Kollektive Identitäten, die an die Stelle von vorpolitischen politische Bezugspunkte zur Eigendefinierung heranziehen, begründen einen demos. Sie begründen eine Gemeinschaft von Menschen, deren Ausgangspunkt die Würde des Menschen ist, wie dies in der UNO-Charta verankert ist genauso wie in der Europäischen Menschenrechtskonvention oder im Vertrag von Lissabon.  Mitglieder eines demos beantworten die Frage: „Warum sind wie eine Gemeinschaft“ mit: „Weil wir es wollen“. Mitglieder eines ethnos antworten: „Weil es Gemeinsamkeiten gibt, die uns zwangsläufig verbinden“.

Längs dieser Unterscheidung von ethnos und demos sind auch die beiden Begriffe Kulturnation und Staatsbürgernation angelegt. Demos entspricht der Staatsbürgernation, ethnos der Kulturnation. Je nachdem, welcher Präferenz man nachhängt, hat diese Unterscheidung ganz entscheidende Auswirkungen auf die Durchlässigkeit der Identitätsgrenzen. Der Grad der Durchlässigkeit entscheidet darüber, ob Außenstehende in eine Gemeinschaft bzw. Gesellschaft eintreten können oder nicht, ob sie die neue kollektive Identität übernehmen können bzw. ob man ihnen zugesteht, diese zu übernehmen. Versteht sich ein Kollektiv als ethnos, ist es äußerst schwierig, in dieses Kollektiv einzutreten, da deren Mitglieder naturgegeben, a priori feststehen, die Demarkationslinien sind klar, rigide, undurchlässig. Die identitätsstiftenden Gemeinsamkeiten einer solchen Gruppe werden in dieser Logik weitervererbt, die Mitgliedschaft erfolgt durch Geburt, begründet durch das jus sanguinis, das von Kleistenes schon im 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung eingeführt worden war. Damals wie heute ging und geht es um „Staatsbürgerschaft“, die mit Rechten und Pflichten verbunden ist und um die sehr oft und oft auch verzweifelt gerungen wird.
Das Prinzip des ethnos weist einen deterministischen Charakter auf, demos beruht hingegen auf einem voluntaristischen Prinzip und entspricht einer Willensgemeinschaft. Beim demos hängt die Mitgliedschaft in einem Kollektiv, in der Gesellschaft nicht von der Geburt ab, sondern ist Folge einer politischen Entscheidung und des Wertebekenntnisses des Individuums. Ethnos entspricht dem Essentialismus wie er beispielsweise von Antony Smith oder Samuel Huntington im Sinne vorgegebener Merkmale einer Gemeinschaft vertreten wird, demos hingegen entspricht dem Konstruktivismus, ein Denkmodell, das beispielswiese von Immanuel Kant oder Jürgen Habermas vertreten wird, wonach es von der subjektiven Entscheidung abhängt, am Kollektiv teilnehmen zu wollen und dass Identität, die subjektive genauso wie die kollektive, nicht vorgegeben, sondern wandelbar sei. Ethnos weist somit auf eine geschlossene Gemeinschaft, demos auf eine offene Gesellschaft hin.

Wir kehren zum Ausgangspunkt zurück. In Toblach hat sich Bevölkerung an den Prinzipien des demos orientiert. Nach der Logik des ethnos hätten die deutschsprachigen BürgerInnen Toblachs nicht den italienischen Guido Bocher wählen dürfen. Das hängt auch nicht davon ab, als was sich Bocher fühlt und wozu sich Bocher bekennt, sondern es kommt auf die Zuschreibung durch die anderen darauf an, ob die Schleusenwärterfunktion des ethnos oder des demos greift, ob der Grenzbalken unten bleibt oder gehoben wird.

Die Wahl Guido Bochers zum Bürgermeister, der wegen seiner „Tugenden“ gewählt worden ist, jenseits von seiner ethnischen Zugehörigkeit, das Verhalten der Bevölkerung bei der Wahl, vor allem aber nach der Wahl, als es zwischen ethnos und demos zu entscheiden galt, all diese Gründe zusammengenommen haben uns überzeugt, Guido Bocher zur politischen Persönlichkeit des Jahres 2010 zu wählen. Guido Bocher und die Bevölkerung der Gemeinde Toblach haben ein starkes Signal gegeben, weisen in eine Zukunft, die die gemeinsamen, universellen Werte in den Mittelpunkt stellt, genauso, wie dies in Europa erfolgt, weil eine europäische Identität nicht aus der Summe der nationalen Identitäten entstehen kann, sondern nur auf der Grundlage politisch-staatsbürgerlicher Werte. Nicht umsonst heißt es im fundamentalen Artikel der europäischen Verfassung: „Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

Herr Bocher, herzlichen Glückwunsch.

 

16. Juni 2011
Eurac, Bozen

Fotos: Harald Knoflach

 

Stefan Lausch

von Günther Pallaver

Die Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft/Società di Scienza Politica dell’Alto Adige/Südtiroler sozietà per scienza pulitica zeichnet jedes Jahr eine Persönlichkeit aus, die in einem gewissen Zusammenhang mit Südtirol steht und die sich durch besondere Leistungen im Bereich der Politik hervorgetan hat.
Letztes Jahr haben wir die aus Laas stammende Monika Hauser von MedicaMondiale geehrte, heuer hat sich der Vorstand der Gesellschaft bei der Nominierung der Persönlichkeit des Jahres 2009 einstimmig für Herrn Stephan Lausch ausgesprochen.
Die Entscheidung war einstimmig, wenngleich sie kontrovers diskutiert wurde. Schon das weist darauf hin, dass nicht die Person, wohl aber das Thema, nämlich die Demokratie, und als Differenzierung, die direkte Demokratie, kontrovers ist. Sie ist übrigens seit 2500 Jahren kontrovers, seitdem Demokratie in Form der direkten Demokratie in Athen eingeführt wurde. Denn Demokratie ist einem ständigen, in der Regel kontroversen Wandlungsprozess ausgesetzt, der allerdings immer in eine Richtung weist, nämlich in die Richtung der Aufhebung von Macht, die definitiv und in ihrem utopischen Kern dann erfolgt ist, wenn Machtunterworfene und Machtträger ident sind.
Lassen Sie mich dazu eine etwas längere Passage aus der „Politik“ von Aristoteles zitieren:

„… der Umstand, dass alle Ämter von allen gewählt werden, dass alle über jeden herrschen und jeder wechselweise über alle, dass die Ämter durch das Los bestimmt sind, entweder alle oder nur die, die keiner Erfahrung und Fertigkeit bedürfen, dass die Ämter von keiner oder doch nur von einer möglichst kleinen Vermögensklasse abhängen, dass nicht ein und derselbe zweimal ein Amt bekleidet, oder doch nur selten oder nur wenige Ämter, ausgenommen die, die mit der Kriegführung in Verbindung stehen, dass die Ämter nur kurzzeitig befristet sind, entweder alle oder nur die, bei denen es angeht, dass alle Richter sind, aus allen herausgenommen und über alle, oder doch über das Meiste, das Bedeutendste und Entscheidendste, wie etwa über Rechenschaftslegungen, über die Verfassung und über private Verträge; ferner der Umstand, dass die Volksversammlung die Entscheidung führt über alles oder zumindest über das Bedeutsamste, kein Amt aber über irgend etwas oder doch nur über möglichst Geringfügiges entscheide. Von den Ämtern ist aber der Rat am meisten demokratisch, wo es nicht die leichte Möglichkeit zur Entlohnung aller gibt. Da nimmt man nämlich auch diesem Amt die Macht. Denn das Volk, das über dieleichte Möglichkeit der Entlohnung verfügt, zieht alle Entscheidungen an sich (…). Weiterhin ist auch demokratisch der Umstand, dass im höchsten Falle alle eine Entlohnung erhalten, die Volksversammlung, die Gerichte und die Ämter, und geht das nicht, wenigstens die Ämter, die Gerichte, der Rat, die entscheidenden Volksversammlungen oder die von den Ämtern, di emiteinander speisen müssen ( … ). Doch bei den Ämtern trifft der Umstand zu, dass keines von ihnenlebenslang sein soll; falls aber eines aus einer alten Verfassungsänderung übrig ist, dann muss dessen Macht beschnitten werden, und man muss aus gewählten Beamten durch das Los bestimmte machen. Das sind also die den Demokratien gemeinsame Erscheinungen.“ (Politik 1317b). –

Es ist ein etwas langes Zitat, aber es lohnt sich, dieses mit dem Vergrößerungsglas zu lesen. Kern der Demokratie ist für Aristoteles die Verfassung und die Verfassungswirklichkeit der mathematischen Gleichheit und der Freiheit – hier finden wir das Revolutionäre in der attischen Demokratie, nämlich das Prinzip der Gleichheit, die in der Würde des Menschen gründet, wie sie in der UNO-Menschenrechtscharta verankert ist, – verbunden mit der Freiheit, wobei beide allerdings in einem ständigen Spannungsverhältnis zueinander leben. Genauso wie schon die Gleichheit von allem Anfang kontrovers interpretiert und in der sozialen Wirklichkeit umzusetzen versucht wurde. Die Isonomia Athens, die formale Gleichheit, stand der Eunomia Spartas, der auch materiellen Gleichheit gegenüber, ein Thema, mit dem sich nicht erst Marx beschäftigt hat.
Neben der Gleichheit und Freiheit ist für Aristoteles die Souveränität des Demos in Legislative, Judikative und letztlich auch in der Exekutive das dritte konstitutive Element der Demokratie. Der Demos, damals eingeschränkt auf die freien, männlichen Bürger Athens, die im weitesten Sinne unbegrenzte Souveränität des Volkes, das ist das Herausragende der attischen Demokratie im 5. Jahrhundert vor Christus.
Im Gegensatz zu Athen steht Rom, das nicht von der direkten, sondern in der republikanischen Zeit, also vor Cäsar, von der indirekten, der repräsentativen Demokratie in besonderer Ausprägung ihrer Eliten geprägt war. Schon allein an diesem Punkt angelangt können wir erahnen, dass es nicht nur eine Demokratie gibt, sondern dass es viele gibt, wie etwa die Lehre von der radikalen Volkssouveränität bei Jean Jacques Rousseau, die liberale Theorie der Repräsentativdemokratie nach John Stuart Mill, die Lehre der revolutionären Direktdemokratie bei Karl Marx, die elitische Demokratietheorie von Max Weber, oder die ökonomische Theorie von Joseph Schumpeter und Antony Downs, die partizipatorische Demokratietheorie, die kritische, die komplexe — und wir sind noch lange nicht am Ende angelangt.

Die Einsicht in die soziale Wirklichkeit, verbunden mit der Erkenntnis, dass nicht alles und nicht permanent direktdemokratisch bestimmt werden kann, hat dazu geführt, dass als Korrektiv der direkten die indirekte, die repräsentative Demokratie eingeführt worden ist. Diese repräsentative Demokratie ist, gleich wie letztlich auch die direkte, wiederum einer Reihe von Kritikpunkten ausgesetzt, und nicht erst seit heute, sondern seit jeher. Denken wir etwa an die von Tocqueville geprägte Formel der „Tyrannei der Mehrheit“, das Dilemma der „Überdehnung der Freiheit“, der Oligarchisierung, das nicht realisierbare Erwartungsniveau, bis hin zu Fragen der aktiven und passiven Chancengleichheit der Wähler und Wählerinnen in unserer heutigen Mediendemokratie.
Deshalb soll als Korrektiv der krisenanfälligen repräsentativen Demokratie die direkte Demokratie wieder stärker berücksichtigt werden. Und in der Tat, der Prozess der „Demokratisierung der Demokratie“ hat längst begonnen. Er hat in der Zwischenzeit sogar die Europäische Union erreicht, nachdem durch den Vertrag von Lissabon letzten Jahres im Artikel 11 die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger, deren Anzahl mindestens eine Million betragen und bei denen es sich um Staatsangehörige einer erheblichen Anzahl von Mitgliedsstaaten handeln muss, die Initiative ergreifen und die Europäische Kommission auffordern können, im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu Themen zu unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsaktes der Union bedarf, um die Verträge umzusetzen. Es handelt sich hier somit um eine „Bürgerinitiative“, die den obersten Stock des europäischen Mehrebenensystems betrifft.
Im Parterre dieses Mehrebenensystems befindet sich Stephan Lausch. Das soll nicht abwertend verstanden sein, im Gegenteil, sondern darauf hinwiesen, dass Demokratie auch etwas mit Nähe der Bürgerinnen und Bürger zu ihrer Umwelt zu tun hat. Man könnte in diesem Zusammenhang den Slogan der 70er Jahre aus dem letzten Jahrhundert mit dem Aufkommen der oral history „Grabe, wo Du stehst“, paraphrasieren in: Entscheide, wo du stehst“.

Die Entscheidung, Stephan Lausch heute zu ehren, war, wie gesagt, einstimmig, wurde aber kontrovers diskutiert. Die Erkenntnis unserer lang andauernden Diskussionen betraf denn auch weniger Fragen der politischen Einordnung von direkter Demokratie, das Spannungsverhältnis zwischen direkter und indirekter Demokratie, Fragen der jeweilige Funktionalität, der praktischen Umsetzung direkter Demokratie, der Gefahren der direkten Demokratie, die es unzweifelhaft auch gibt, wenn wir etwa an den Cäsarismus bzw. Bonapartismus denken, oder an die appellativen Pseudo-formen direkter Demokratie in autoritären bzw totalitären Systemen, oder, auf unsere Realität angewandt, wenn es etwa um den Gruppenschutz in einer mehrsprachigen Realität geht.
Wir sind somit weniger von Fragen der Demokratie als einem Verfahren ausgegangen, sondern von Demokratie als einer politischen Kultur, verstanden als einer partizipativen politischen Kultur. Wir sind also vom Einsatz, vom Engagement für mehr Demokratie ausgegangen, unabhängig, ob der eine von uns in der direkten Demokratie der Lösung letzten Schluss sieht oder diesem Instrument skeptisch bis ablehnend gegenübersteht. Denn, um Willy Brand zu zitieren, „mehr Demokratie wagen“ bedeutet immer auch ein mehr an Partizipation, und dadurch ein weniger an Machtunterworfenheit.
„Es ist kein leichter Weg, den Lausch für sich ausgesucht hat. Denn für mehr Demokratie zu kämpfen, ist ein hartes Brot. Und Stephan Lausch ist kein Volkstribun, der die Massen mit seinen Reden mobilisiert, sondern eher ein sanfter Verschwörer, der leise und überlegt spricht.“, hat Karl Hinterwalder in seiner Charakterisierung von Stephan Lausch in der heurigen Ausgabe von Politika, unserem Jahrbuch, geschrieben.
Stephan Lausch hat nach unserer Ansicht gemeinsam und im Rahmen der Initiative für mehr Demokratie am Demokratiesierungsprozess der politischen Kultur Südtirols mitgewirkt, einen seit vielen Jahren öffentlichen Diskurs in Gang gesetzt, wobei Öffentlichkeit bereits in Athen konstitutiv für Demokratie war, der das „mehr Demokratie wagen“ von einem vielfach abstrakten Konzept in eine praktische Bahn gelenkt hat.
Demokratie ist grundsätzlich ein positiver Wert, weil er auf dem Prinzip der Gleichheit aller Menschen beruht. Stephan Lausch hat einen wichtigen Beitrag zur Reflexion über Demokratie geleistet, für das kritische Bewusstsein, dass Demokratie nicht nur Delegierung von Macht sein muss, sondern dass Demokratie die direkte Ausübung von Macht sein kann, wenn wir Macht als eine Treuhandschaft in den Händen der Machtträger und Machtträgerinnen verstehen.
Der öffentliche Diskurs über Demokratie hat nicht nur die direkte Demokratie gestärkt, sondern auch die repräsentative und ist somit als ein Beitrag für den Prozess der staatsbürgerlichen bzw. landesbürgerlichen Mündigkeit der Südtiroler Bevölkerung zu verstehen.

Aus diesen für uns zentralen Gründen haben wir uns für Stephan Lausch als politische Persönlichkeit des Jahres 2010 ausgesprochen. Unser und mein herzlicher Glückwunsch, lieber Stephan, soll nicht nur die Anerkennung für die vielen Jahre Deines Einsatzes für mehr Demokratie sein, sondern ein Ansporn, auch in Zukunft mitzuwirken, dass wir alle „mehr Demokratie wagen“ mögen.

Herzliche Gratulation!

von Stephan Lausch

Sehr geehrte Südtiroler Gesellschaft für Politikwissenschaft – zuerst einmal bin ich, ich hoffe, ich darf das so sagen, verlegen, ob dieser Auszeichnung! Verlegen heißt, dass ich eigentlich irgendwo anders liege. Denn eine Persönlichkeit ist für mich etwas Gewordenes, sie ist etwas Festes und Bestehendes. Von einer Persönlichkeit spricht man als von jemandem, der etwas geworden ist, sie ist etwas, das in der Außensicht besteht, sie ist ein Element der öffentlichen Welt.
Ich selbst kann mich nicht so verstehen. Ich bin mir zuallererst etwas Werdendes und nicht etwas Gewordenes, ich erlebe mich nicht von außen, wie andere Menschen mich ausschnittweise in bestimmten meinen Handlungen erleben, sondern als etwas, das sich nicht mit seinen Handlungen identifizieren läßt, das auch andere Möglichkeiten seiner selbst kennt, vor allem aber als etwas, das immer schon über seine Handlungen hinaus ist. Ich bin also verlegen, denn ich liege dahinter und ich liege vorneweg, so, dass ich mich frage: bin ich das, was als politische Persönlichkeit  bezeichnet wird? Und ich wundere mich, ich wundere mich, dass eine solche Fotographie mit diesem Titel von mir entstanden ist. So weit mein existenzielles Empfinden.

Wenn ich aber auch immer schon irgendwie über mich selbst hinaus bin, dann so, dass mein Wille an eine Sache, an eine Idee, freilich, an viele Sachen, an viele Ideen gebunden ist. Und die Sache mit der Demokratie ist mir eine der wichtigsten. Deshalb bin ich Ihnen von der Gesellschaft für Politikwissenschaft sehr sehr dankbar für diese Auszeichnung.
Ja, ich bin auch der, der für mehr Demokratie kämpft, ich bin auch der, der die Näherung an die Idee der Demokratie zu betreiben versucht, weil er das als notwendige Bedingung sieht für menschliches Leben, das im Einklang leben kann mit sich selbst und der Welt, der menschlichen und der natürlichen: Einklang durch Abstimmung.
Ich bin froh über diese Auszeichnung, weil es mir um die Sache der Demokratie geht, weil sie diese Sache fördert, weil sie ihr Gewicht gibt. Dass jemand ausgezeichnet wird, der von der Mangelhaftigkeit der geltenden demokratischen Regeln, ja des gesamten politischen Systems ausgeht und seine grundlegende Erneuerung und Reformierung betreibt, die letztlich eine Revolutionierung sein kann, das ist das eigentlich Wertvolle an dieser Auszeichnung, dass also das Streben nach Verwirklichung von Teilhabe und Mitverantwortung aller am Zustandekommen und am Gelten von politischen Entscheidungen ein auszeichnungswürdiges Bestreben ist. Diese Auszeichnung ist in der Öffentlichkeit die wissenschaftliche Akreditierung der Tätigkeit der Initiative für mehr Demokratie, die völlig im Kontrast steht zum Credo der politischen Autorität und auch der politischen Praxis. Es ist die wissenschaftliche Bestätigung einer Notwendigkeit.
Ich nehme die Auszeichnung gerne an in Vertretung aller Menschen, die in und mit der Initiative den Weg zu mehr Demokratie gehen.

Wo kommen wir her? Von der Erfahrung, wie Menschen in dieser so unvollständig, wir sagen gerne, nur halb ausgebildeten Demokratie, als Vernunftwesen und in ihrer menschlichen Würde mißachtet und beleidigt werden. Mit meiner Arbeit im Ökoinstitut bis vor 15 Jahren habe ich erfahren müssen, dass in der Politik nicht vernünftige Argumente, sondern Machtpositionen zählen, Menschen ausgegrenzt und erniedrigt werden. Ich bin zur Überzeugung gekommen, dass Herrschaftsverhältnisse grundsätzlich schiefe Verhältnisse sind, in denen wie selbstverständlich, quasi natürlich, Interessen bedient werden und nicht das Wohl aller zählt.
Vor fünfzehn Jahren war Direkte Demokratie ein Fremdwort, ein Niemandsland. Um es zu bebauen waren nur die Überzeugung von ihrer Notwendigkeit, waren Geduld und Ausdauer nötig, vor allem, um das Ohnmächtigkeitsgefühl der Menschen zu überwinden, ihre Gleichgültigkeit als Schutz vor weiteren Enttäuschungen. Was es da gebraucht hat, war vor allem Ermutigung. Für die politische Vertretung hat dieses Anliegen in der Regel immer so weit außerhalb ihres Vorstellungsvermögens gelegen, dass sie völlig unvorbereitet mit unseren politischen Initiativen konfrontiert war. Das hat bis zuletzt, bis zum Höhepunkt unserer langjährigen Arbeit, der ersten landesweiten Volksabstimmung am 25. Oktober 2009, gegolten. Bis dahin haben wir es wirklich geschafft, in einem, wenn auch zunehmend negativen, so doch unserer Sache förderlichen Kontext, in vielen Menschen Hoffnung wach werden zu lassen, dass politische Mitbestimmung doch noch möglich ist. Sie ist in der Volksabstimmung für die politische Vertretung in unumgehbarer Weise zum Ausdruck gekommen. Der Begriff „Volksabstimmung“ ist zum Wort des Jahres erklärt worden, wir haben den Stiftungspreis für Zivilcourage bekommen und jetzt erklären Sie mich auch noch zur politischen Persönlichkeit des Jahres 2009. Da ist eine neue Realität geschaffen worden. Das ist eine wunderbare Erfahrung! Ich bin sicher, wir bekommen jetzt eine bessere Regelung, mit der Direkte Demokratie bei uns real praktizierbar wird. Auch einzelne Gemeinden beginnen die politische Mitbestimmung nicht mehr als von oben gewollte, aber in ihrer Anwendbarkeit mißachtete Formalität, sondern als etwas wirklich Föderungswürdiges zu verstehen und zu behandeln. Unsere Botschaft reicht, andere Initiativen verstärkend, bis nach Rom und nach Brüssel. Ich meine, wir haben indirekt auch etwas im Rahmen der repräsentativen Demokratie bewirkt, wir haben die dialogfähigen Kräfte gestärkt.

„Die Weltgeschichte ist der Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben.“ G.W.F. Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte
An diesem Bewußtsein wollen wir weiter arbeiten in der Vorstellung mitgeholfen zu haben, das, Hegelisch gesprochen, der Geist zu sich kommt.

Klicke hier für die Würdigung (Text von Karl Hinterwaldner).

6. Juni 2010
Eurac Library, Bozen

Fotos: Harald Knoflach

© Ulla Burghardt/medica mondiale

Monika Hauser

Klicke hier für die Würdigung (Text von Stephani Streloke).